Laylatul Qadr

In dieser Nacht, in den letzten zehn Nächten des Ramadan, erwacht die kleine Maus aber doch wieder ganz früh. Sie schaut aus ihrer Tür hinaus und sieht die Menschen, die den Itikaf vollziehen, in der Moschee. Die Lichter sind immer noch gedimmt, und alles ist ganz ruhig und friedlich. Einige stehen zusammen und beten freiwillige Gebete – Qiyam-ul-Layl, das freiwillige Stehen in der Nacht für Allah. Manche sitzen und lesen den Quran, andere trinken Tee aus einer Warmhaltekanne. Für die kleine Maus fühlt sich alles ganz besonders an. Sie erinnert sich an eine Aya, die der Imam bei einer seiner Ansprachen erklärt hat: "Frieden ist sie bis zum Anbruch der Morgendämmerung."
Der Imam hat über die besondere Nacht gesprochen – Laylatul Qadr. In dieser Nacht herrscht Frieden, und die Engel kommen auf die Erde herab, denn im Quran steht: "Es kommen die Engel und der Ruh in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn mit jeder Angelegenheit herab." Der Ruh, das ist der Engel Dschibril, der jedes Jahr in dieser Nacht als besonderer Gast auf die Erde herabkommt.
Die kleine Maus zieht es nach draußen. Sie huscht mucksmäuschenstill an der Moscheewand entlang – über den Hocker, das Bücherregal, die Fensterbank. Den einfachsten Weg nach draußen kennt sie schon im Schlaf. Dann sucht sie ein geöffnetes Fenster und klettert auf das Dach der Moschee. Es ist weder zu warm noch zu kalt diese Nacht. Sie fühlt sich wohl und schaut in den Himmel hinauf. Frieden und Ruhe breiten sich aus, und die kleine Maus freut sich, dass sie diese Nacht erleben darf. Sie hebt ihre kleinen Pfötchen zum Himmel und bittet Allah um alles, was Platz in ihrem kleinen Mäuseherz gefunden hat:
"Ya Allah, bitte vergib Suleyman und seiner Familie die Fehler, die sie begangen haben. Ya Allah, bitte vergib den anderen Gläubigen, die diesen Ramadan hier in der Moschee verbringen. Ya Allah, vergib den Muslimen auf der ganzen Welt. Ya Allah, stehe den Unschuldigen bei, die unterdrückt werden. Ya Allah, sorge für Frieden auf der Welt. Ya Allah, versorge mich weiterhin mit so leckerem Essen. Ya Allah, mach, dass ich EINMAL auf einem Fahrrad mitfahren darf. Amin, amin, amin."
Dann bemerkt sie, wie es am Horizont langsam hell wird. In der Moschee wird der Adhan gerufen, um allen Gläubigen mitzuteilen, dass die Zeit für Essen und Trinken jetzt vorbei ist. Während die Menschen in der Moschee das Morgengebet verrichten und dann entweder nach Hause oder zur Arbeit gehen oder sich noch einmal hinlegen, um etwas zu schlafen, sieht die kleine Maus hoch oben auf dem Dach, wie die Sonne aufgeht. Die kleine Maus hat schon viele Sonnenaufgänge beobachtet, aber heute ist es irgendwie anders. Die Sonne schiebt sich ohne Strahlen über den Horizont. Und da fällt ihr auch ein, was der Imam über ein Zeichen von Laylatul Qadr gesagt hat:
"Der Prophet (salallahu alaihi wa sallam) erklärte: 'Und ihr Zeichen ist, dass die Sonne an ihrem Morgen weiß und ohne Strahlen aufgeht, als wäre sie eine große runde Messingschale.'"
Genauso sieht die kleine Maus die Sonne jetzt aufgehen – wie eine große, runde Schale.
Weil sich so viele Engel und auch der Engel Dschibril in der Morgendämmerung wieder auf den Weg zurück in die Himmel machen, geht die Sonne anders auf als an allen anderen Tagen, denn die Engel verdecken sie mit ihren Flügeln.
Die kleine Maus verweilt noch ein bisschen ergriffen auf dem Moscheedach. Sie freut sich für alle Muslime, die diese Nacht mit vielen guten Taten für Allah verbracht und Laylatul Qadr nicht verpasst haben. Die kleine Maus hat auch gehört, dass die Menschen in dieser Nacht ein ganz besonderes Bittgebet sprechen sollen:
"Allahumma innaka 'afuwun tuhibbul-'afwa fa'fu 'anni.
O Allah, Du bist der All-Vergebende, und Du liebst es zu vergeben, so vergib mir."
Da Tiere und somit auch Mäuschen keine Sünden und Fehler begehen, hat die kleine Maus dieses Bittgebet nicht gesprochen. Aber sie freut sich für alle Gläubigen, die in der vergangenen Nacht daran gedacht haben.
Als die kleine Maus dann leise wieder zurück in den Moscheeraum klettert, hört sie einige Menschen schon leise schnarchen. "Ob sie wohl auch gespürt haben, dass letzte Nacht Laylatul Qadr war?", fragt sie sich. Es ist nämlich nicht sicher, wann genau diese Nacht ist – nur, dass sie in den letzten zehn Nächten des Ramadan und sehr wahrscheinlich in einer ungeraden Nacht zu suchen ist.
Besonders leise tippelt sie über den Teppich und verschwindet in ihrem Mauseloch. Sie kuschelt sich in ihr Bettchen und schläft dann ganz schnell noch einmal ein.